Deutschlands Mitverantwortung am Genozid an den Tutsi in Ruanda 1994


Dass der Genozid an den Tutsi in Ruanda durch ein entschlosseneres Handeln der Weltgemeinschaft hätte verhindert oder zumindest in seinem Ausmaß eingeschränkt werden können steht außer Frage. Im Mittelpunkt des Diskurses standen bislang das Versagen der Vereinten Nationen, wie auch das von einigen der einflussreichsten Mitgliedstaaten wie die USA, Frankreich und Belgien. Deutschlands Rolle während und Mitverantwortung am Genozid an den Tutsi wurde hingegen bis heute nicht ausreichend reflektiert und aufgearbeitet.

Akten belegen jedoch, dass Deutsche Diplomat*innen bereits vor und auch während des Völkermordes besser über die Lage informiert waren, als angenommen. Die Früherkennung und politische Analyse sowie eine angemessene Reaktion Deutschlands versagten vor und während des Völkermords an den Tutsi 1994 in Ruanda.

Deutschlands Kolonialgeschichte

Nachdem der afrikanische Kontinent auf der Berliner Konferenz 1885 in Kolonialgebiete eingeteilt wurde, gehörte Ruanda neben Burundi und Tansania zur deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika.

Die deutschen Kolonialherren fanden in Ruanda entgegen ihren Erwartungen eine zentralisiert organisierte Feudalherrschaft vor. Diese bestand aus drei sozialen Schichten: den Tutsi, den Hutu und den Twa, nicht zu verwechseln mit den Clans (Amoko).

Anstatt die vorgefundene Zivilisation zu bekriegen oder zerstören, schlossen sie Bündnisse und instrumentalisierten die sozialen Schichten der Bevölkerung für ihre eigenen Herrschaftsziele. Deutschlands Ziel war es, Ruanda weitestgehend ohne Gewalt zu kolonisieren, da eine militärische Eroberung nicht sehr vielversprechend schien. So nutzten die Deutschen, unter anderem durch den deutschen Residenten Richard Kant, bestehende Herrschaftsstrukturen und -ansprüche zur Spaltung der Bevölkerungsgruppen. Das Ausnutzen und gegeneinander Ausspielen von Hutu und Tutsi war der Beginn einer Geschichte von Benachteiligung, Unterdrückung, Misstrauen und schließlich Hass. 

Nachdem Ruanda 1918 als Mandatsgebiet an Belgien übergeben wurde, wurden diese Spannungen durch die Belgier weiter verstärkt. Nachdem die Deutschen die vermeintlich vorgefundene Einteilung in Tutsi,Hutu und Twa nach eigener falscher Interpretation als Ethnien beschrieben und ausnutzten, gingen die Belgier noch einen Schritt weiter und hielten die Zugehörigkeit der Bevölkerungsgruppe im Pass fest. Die belgische Herrschaft verstärkte also die Klassenschranken, stachelte die einzelnen Gruppen weiter gegeneinander auf und führte somit zu einem sozialen Wandel, der eine Gegenelite der Hutu und einen Bantu-Nationalismus als Gegenideologie zur Tutsi-Aristokratie mit sich brachte. 

Verfechter*innen dieser Ideologie radikalisierten sich nach der Unabhängigkeit Ruandas im Jahr 1962. Es wurde eine Hutu-Republik ausgerufen und bereits vor 1994 waren die Tutsi zahlreichen Progromen ausgesetzt, was schließlich im Genozid an den Tutsi gipfelte.

(Mehr über den geschlichtlichen Hintergrund finden Sie hier.)

Deutschland während des Genozids an den Tutsi 1994

Zwischen April und Juli 1994 schaute die Welt erst weg und dann tatenlos zu, wie in Ruanda über eine Million Menschen während des Völkermordes an den Tutsi ermordet wurden. Deutschland war in den 1990er Jahren als zweitgrößter bilateraler Partner in der Entwicklungszusammenarbeit, durch eine Länderpartnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda seit 1982, mit Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Deutschen Welle und als Beobachterin bei den Arusha-Friedensverhandlungen zwischen Ruanda und der RPF ein bedeutender Akteur in Ruanda. “Deutschland hatte neben Belgien, Frankreich und den USA also durchaus eine außen- und entwicklungspolitische Stimme in Kigali”, so Sarah Brockmeier und Anton Peez (2021: 6), die die deutsche Außenpolitik vor und während des Völkermordes in Ruanda analysieren. Doch diese Stimme war vor allem aufgrund von radikalen Fehleinschätzungen der Deutschen Botschaft und des Auswärtigen Amtes nutzlos.

Radikale Fehleinschätzung der organisierten Gewaltbereitschaft und ethnischen Dimension

Es ist inzwischen klar, dass der Deutschen Botschaft in Kigali vor dem Völkermord in Ruanda klare Warnzeichen vorlagen, welche übersehen, falsch eingeschätzt oder gar nicht erst an das Auswärtige Amt in Bonn weitergeleitet wurden. Die Sicherheitslage wurde damals von Mitarbeiter*innen der Botschaft und in der Entwicklungszusammenarbeit heruntergespielt und das Auswärtige Amt zweifelte an den Einschätzungen der Botschaft in Kigali. Trotzdem war sich die Botschaft nach Erkenntnissen von Brockmeier und Peez über “die Grundzüge der Konfliktdimensionen Ethnie, regionale Rivalität und parteipolitische Stimmung sowie organisierte Gewalt” klar, wobei die Gewaltbereitschaft und das letztendliche Ausmaß des Mordens radikal falsch eingeschätzt wurden: “Allerdings verkannten die Botschaft und Zentrale trotz der vorliegenden Informationen bereits die staatliche Orchestrierung, den Organisationsgrad und die spezifisch ethnische Dimension (d.h. die gezielte Verfolgung von Tutsi) der Gewalt in Ruanda 1993 - und das, obwohl zahlreiche ausführliche ruandische und internationale Berichte zu genau diesem Thema vorlagen” (Brockmeier & Peez, 2021: 11). Verschiedene Beispiele für diese Fehleinschätzungen sind im Papier von Brockmeier und Peez (2021) ab Seite 12 aufgelistet: Akteneinsichten: Die deutsche Außenpolitik und der Völkermord in Ruanda (boell.de)

Folgen der Fehleinschätzungen vor und während des Völkermordes an den Tutsi

Folge dieser Fehleinschätzungen war zunächst eine Tatenlosigkeit und letztlich Handlungsunfähigkeit. Brockmeier und Peez (2021) kommen zu dem Schluss, dass die tiefe Verbindung Deutschlands zu Ruanda vor dem Völkermord ermöglicht hätte, eigene politische Initiativen für Friedensverhandlungen zwischen den Konfliktparteien anzustoßen. Doch Deutschland bemühte sich nicht um eine gewichtige Vermittlerrolle und orientierte sich stattdessen stark an den politischen Einstellungen von Frankreich, Belgien und den USA, welche das Völkermordregime Habyarimanas stabilisieren wollten. Auch eine Deutsche Beteiligung an der Friedensmission UNAMIR der Vereinten Nationen wäre eigentlich möglich gewesen. Diese Friedensmission wurde 1993 zur Unterstützung der Umsetzung des Arusha-Friedensabkommens und Einreichung einer friedlichen Übergangsregierung nach Ruanda entsandt, doch die Deutschen Verteidigungs- und Justizministerien verhinderten eine Beteiligung Deutschlands trotz mehrfacher ruandischer und internationaler Anfragen und einer Befürwortung durch das Auswärtige Amt bereits nach Beginn des Völkermordes.

Deutschland und die Aufklärung

Der Journalist Arndt Peltner untersuchte monatelang die Rolle Deutschlands im Völkermord gegen die Tutsi 1994 für ein Feature, das 2013 veröffentlicht wurde. In einem Interview 2015 kam er zu dem Schluss, dass Entscheidungen und Verhalten rückblickend zwar immer schwierig zu beurteilen sind - doch in Deutschland ein Rückblick gar nicht erst stattgefunden habe. Für Journalist*innen und Wissenschaftler*innen war es jahrzehntelang fast unmöglich, an Dokumente oder Stellungnahmen von Deutschen Institutionen oder Verantwortlichen zu kommen. Doch Brockmeier und Peez (2021) konnten eine erste detaillierte Akteneinsicht erlangen. Ihr Papier ist nun ein erster Beitrag zu der Aufarbeitung der Rolle Deutschlands im Völkermord gegen die Tutsi 1994 und möglicher Lehren für die Deutsche Außenpolitik. Der Einfluss der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda in den 1990er Jahren wurde frühzeitiger durch Jürgen Wolff und Andreas Mehler untersucht (1998; 1999), doch eine systematische und historische Aufarbeitung der Rolle des vorherigen Kolonialismus und des Auswärtigen Amtes später während des Genozids ist ausstehend.