Historischer Hintergrund: Völkermord an den Tutsi in Ruanda
Die Einheit des ruandischen Volkes
Ruanda hat 20 Clans, die in Kinyarwanda ubwoko genannt werden. Namentlich sind dies die: Abanyiginya, Abagesera, Abega, Ababanda, Abacyaba, Abasinga, Abashambo, Abahinda, Abazigaba, Abungura, Abashingwe, Abenengwe, Abasita, Abatsobe, Abakono, Abanyakarama, Abarihira, Abahondogo, Abashambo und Abongera. Trotz dieser Unterteilung, lebten alle Ruander*innen Jahrhunderte lang in Einheit. Vor der Kolonialzeit, die im Jahr 1899 begann, als die katholischen Missionare nach Ruanda kamen, gab es keine ethnischen Konflikte oder ethnisch begründeten Kriege zwischen Ruander*inen. Die gesamte ruandische Bevölkerung war gemeinsam das, was die ruandischen Vorfahren "Das Volk des Königs" nannten. Alle wussten, dass sie Ruander*innen waren, und ihnen gemeinsam das Land Ruanda gehörte und niemand hatte mehr Recht darauf als andere. Unter allen Ruander*innen war Stolz auf ihre Nationalität (Patriotismus) verbreitet. Dieser Patriotismus wurde durch die Tatsache gestärkt, dass man als Volk eine Sprache sprach, einen Gott namens Ryangombe, dieselbe Kultur und einen König hatte, der für alle Ruander*innen Oberhaupt war. Einige Hindernisse für die ruandische Einheit waren die Kämpfe derjenigen, die an der Macht sein wollten. Ein Beispiel dafür ist der Kampf in Rucunshu (Nyamabuye-Distrikt-Muhanga), der Ende des Jahres 1896 stattfand. Bei diesem Kampf töteten sich die Menschen gegenseitig, weil einige von ihnen König Mibambwe IV Rutarindwa töten wollten, um ihn durch Musinga, den Sohn von Kigeri IV Rwabugiri und Kanjogera, zu ersetzen.
Von sozialen Klassen zu ethnischen Gruppen
Besonders wichtig ist es zu verstehen, dass alle oben genannten Ubwoko den Hutu, Tutsi und Twa angehörten. Vor der belgischen Kolonialzeit waren diese Gruppen Hutu, Tutsi und Twa ausschließlich soziale Klassen. Die belgischen Kolonialisten definierten diese jedoch stattdessen nach der Volkszählung von 1933 als drei starre, unterschiedliche ethnische Gruppen.
Es ist nicht einfach, den Ursprung der Worte "Hutu", "Tutsi" und "Twa" zu ermitteln. Das Wort "Hutu" hat Ähnlichkeiten mit manchen Wörtern einiger im Kongo gesprochener Sprachen und bedeutet "umugaragu" (Diener, Sklave). Das Wort "Tutsi" scheint sich von dem Verb "gutuka" abzuleiten, das "kuva" (kommen, kommen lassen) oder "gukungahaza" (bereichern) bedeutet. Diese Bedeutung hatte es in der vor der Kolonialzeit verwendeten Literatur. Das Wort "Umutwa" ist mit den Namen einiger zentralafrikanischer Stämme verwandt, wie z. B.: Batua, Batoa, Batswa, Bcwa, usw. Die meisten von ihnen leben in der Demokratischen Republik Kongo. Obwohl es keine Beweise für die Herkunft der beiden Stämme gibt, wagen manche Leute die Behauptung, dass Hutus und Tutsis zwei verschiedene Rassen sind, deren Blut nichts gemeinsam habe und deren Form völlig unterschiedlich sei. Hutu, Tutsi und Twa waren jedoch keine ethnischen Gruppen sondern ausschließlich soziale Klassen in Ruanda. So waren vor der Kolonialzeit die Tutsi im Allgemeinen in den höheren Schichten des Sozialsystems angesiedelt und die Hutu in den unteren. Allerdings war soziale Mobilität möglich: Ein Hutu, der eine große Anzahl von Rindern oder anderen Reichtümern erwarb, konnte in die Gruppe der Tutsi assimiliert werden (sozialer Aufstieg: Kwihutura), während verarmte Tutsi als Hutu angesehen wurden (sozialer Abstieg: Gucupira).
Systematische ethnische Spaltung durch die Kolonialherren
Die Deutschen, die um die Jahrhundertwende eine Kolonialverwaltung in Ruanda errichteten, und die Belgier, die sie nach dem Ersten Weltkrieg ablösten, versuchten, Ruanda mit den geringsten Kosten und dem größten Gewinn zu beherrschen. So setzten sie Tutsi ein, um andere Ruander*innen zu beherrschen, indem sie für die Belgier Steuern eintrieben, Straßen bauten und Kaffee anpflanzten.
Deutsche und Belgier glaubten, dass Tutsi, Hutu und Twa drei verschiedene, seit langem existierende und in sich kohärente Bevölkerungsgruppen seien, und die drei großen Bevölkerungsgruppen der Äthiopier, Bantu und Pygmäen lokal vertraten. Die Kolonialherren waren überzeugt davon, dass die Tutsi den Hutu und die Hutu den Twa überlegen seien. Sie waren der Meinung, dass die Tutsi ihnen ähnlicher sahen als andere Ruander*innen. Daher hielten die Kolonialherren es für vernünftig, die Tutsi in der Evolutionshierarchie näher an Europäer*innen und damit auch in ihren Fähigkeiten näher an ihnen zu vermuten. Da sie die Tutsi für fähiger hielten, erschien es ihnen logisch, dass die Tutsi über Hutu und Twa herrschen sollten, so wie es für Europäer vernünftig war, über Afrikaner zu herrschen.
Während der Herrschaft des Königs waren Tutsi und Hutu auf verschiedenen Ebenen an der Verwaltung beteiligt. Während der Kolonialzeit verfügten die Belgier jedoch, dass nur Tutsi Beamte sein sollten. Sie verdrängten Hutu systematisch aus Machtpositionen und schlossen sie von der Hochschulbildung aus, die vor allem als Vorbereitung auf eine Karriere in der Verwaltung gedacht war. So erzwangen sie nicht nur für die 1920er und 1930er Jahre, sondern auch für die nächste Generation ein Tutsi-Monopol im öffentlichen Leben. Die einzigen Hutu, die dem Abstieg in die arbeitenden Massen entkamen, waren die wenigen, die in religiösen Seminaren studieren durften. Indem sie das Machtmonopol der Tutsi sicherten, schufen die Belgier die Voraussetzungen für künftige Konflikte in Ruanda.
Nachdem die Belgier beschlossen hatten, die Vergabe von Verwaltungsposten und Hochschulbildung auf Tutsi zu beschränken, standen sie vor der Herausforderung, genau zu bestimmen, wer Tutsi war. Einige konnten anhand von körperlichen Merkmalen, die die Belgier nach europäischen Standards willkürlich festlegten, identifiziert werden, aber nicht alle. Da die Gruppenzugehörigkeit angeblich vererbt wurde, lieferte die Genealogie den besten Anhaltspunkt für den Status einer Person, aber die Rückverfolgung von Genealogien war zeitaufwändig und konnte auch ungenau sein, da Personen die Kategorie wechseln konnten, je nachdem, wie ihr Vermögen stieg oder fiel. Die Belgier beschlossen, dass das effizienteste Verfahren darin bestand, einfach alle Menschen zu registrieren und ihre Gruppenzugehörigkeit ein für alle Mal schriftlich festzuhalten. Alle später geborenen Ruander*innen sollten zum Zeitpunkt ihrer Geburt ebenfalls als Tutsi, Hutu oder Twa registriert werden. Allein durch die schriftliche Erfassung der ethnischen Gruppen wurde ihre Bedeutung gestärkt und ihr Charakter verändert. Die Kategorien waren nicht mehr flexibel und amorph, sondern wurden so starr und dauerhaft, dass einige zeitgenössische Europäer begannen, sie als "Kasten" zu bezeichnen.
Hutu und Tutsi wurden nach der Volkszählung von 1933 als legale Identitäten durchgesetzt. Damit hatte die belgische Verwaltung einen entscheidenden sozialen Effekt: Weder Kwihutura (der soziale Aufstieg eines einzelnen Hutu in den Status eines Tutsi) noch Gucupira (der soziale Abstieg von einem Tutsi in einen Hutu-Status) war mehr möglich.
Die Bevorzugung der Tutsi durch die Kolonialisten und ihr Einsatz zur Beherrschung der anderen Ruander*innen war der Beginn des Hasses durch ethnische Spaltungen, weil der Rest der Bevölkerung sie als schlechte Herren ansah, während die schlechten Herren in Wirklichkeit die Kolonialisten waren, die diktierten und planten, was zu tun war, und die Tutsi zwangen, die Befehle auszuführen.
Der Hass gegen die Tutsi
Der Unabhängigkeit Ruandas im Jahr 1962 ging 1959 ein Hutu-Aufstand (Hutu-Revolution) voraus, bei dem Hunderte von Tutsi getötet und Tausende vertrieben und zur Flucht in die Nachbarländer gezwungen wurden. Einige Versuche, nach Ruanda zurückzukehren, wurden unternommen. Zwischen 1961 und 1966 startete eine Gruppe von Guerillas, die Inyenzi, eine Reihe von Angriffen aus den Nachbarländern, deren offensichtliches Ergebnis die verstärkte Unterdrückung der Tutsi innerhalb Ruandas war. Zur gleichen Zeit begann sich unter den ruandischen Studenten, die außerhalb Afrikas studierten, eine neue Art von Organisation zu bilden. Die Association Générale des Etudiants Rwandais (AGER) versuchte, eine Gemeinschaft von Ruandern und nicht von Hutu oder Tutsi aufzubauen. Das Ziel der Mitglieder war es, ihr Studium im Ausland abzuschließen und nach Ruanda zurückzukehren, um dort ihr neues Nationalbewusstsein zu festigen. Die Bewegung hatte ihren Sitz in Bonn und operierte in Paris, Brüssel und Moskau, wurde aber durch den Staatsstreich, der Präsident Juvenal Habyarimana 1973 an die Macht brachte, verhindert. Aber er tat nichts, um die Geschichte des Hasses gegen die Tutsi zu ändern. Vielmehr setzte er das Erbe einer verzerrten Geschichte fort, die vom Hass auf die Tutsi geprägt war, und sie wurden unter seiner Herrschaft weiterhin diskriminiert und Opfer außergerichtlicher Tötungen. In den frühen 1980er Jahren wurde die Ruandische Allianz für Nationale Einheit (RANU) gegründet. Die RANU konzentrierte sich auf die Rückkehr der Flüchtlinge, die nach Ansicht der Regierung Habyarimana nicht mehr existierten, weil sie sich in den Nachbarländern niedergelassen hatten und das Land zu überbevölkert war, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen. 1986 verbreiterte die RANU ihre Basis, indem sie ihre politische Haltung und ihren Namen in Ruandische Patriotische Front änderte. Am 1. Oktober 1990 startete die RPF von Uganda aus daher einen Angriff zur Befreiung Ruandas. Unter dem Vorwand, die Sicherheit zu gewährleisten, begann die Regierung Habyarimana mit massiven Verhaftungen in Kigali und in anderen Teilen des Landes und inhaftierte schließlich rund 13.000 Tutsi, die als Ibyitso (Komplizen) bezeichnet wurden. Tausende von ihnen wurden monatelang ohne Anklage und unter erbärmlichen Bedingungen festgehalten. Viele wurden gefoltert und Dutzende starben. Die letzten von ihnen wurden schließlich im April 1991 befreit. 1992 wurde die Koalition für die Verteidigung der Republik (Coalition pour la Défense de la Republique, CDR) gegründet. Die CDR war eine Partei mit extremistischen Hutu, die den Hass gegen die Tutsi zum Ausdruck brachten. Das RPF und die ruandische Regierung unterzeichneten im Juli 1992 in Arusha, Tansania, einen Waffenstillstand, und im August 1992 unterzeichneten sie das erste einer Reihe von Abkommen, die als Arusha-Abkommen bekannt werden sollten. Auf Druck des Militärs und der zivilen Hardliner erklärte Habyarimana am 15. November in einer Rede in Ruhengeri, dass er die Vereinbarungen von Arusha nicht anerkenne. Habyarimana machte deutlich, dass er nicht beabsichtigte, das drei Monate zuvor unterzeichnete Abkommen umzusetzen, und bezeichnete es als "ein Stück Papier". Am 21. September 1992 sandte Oberst Déogratias Nsabimana, Chef des Generalstabs, ein streng geheimes Memorandum an seine Befehlshaber, in dem er "den Feind" identifizierte und definierte. Der Hauptfeind waren die extremistischen und machthungrigen Tutsi innerhalb und außerhalb des Landes, die die Realitäten der sozialen Revolution von 1959 NIE anerkannt haben und NIE anerkennen werden und die mit allen Mitteln, einschließlich der Waffen, die Macht zurückerobern wollen. Als Partisanen des Feindes wurden alle definiert, die den Hauptfeind unterstützten. In den Jahren 1992 und 1993 nahmen die scheinbar willkürlichen Angriffe unbekannter Angreifer dramatisch zu: Granaten wurden in Häuser geworfen, Bomben in Bussen oder auf Märkten platziert und Minen an Straßen gelegt. Der Generalstab der ruandischen Armee gab eine Pressemitteilung heraus, in der er die RPF-Infiltratoren und ihre "Komplizen" für diese Gewalt verantwortlich machte, eine Einschätzung, die von den Anhängern Habyarimanas allgemein akzeptiert wurde.
Die Ideologie des Völkermords an den Tutsi
Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug mit Präsident Habyarimana an Bord abgeschossen. Im Jahr 2010 kamen die französischen Richter Nathalie Poux und Marc Trevedic nach Ruanda, um den Abschuss von Habyarimanas Flugzeug zu untersuchen. Die Untersuchung ergab, dass das Flugzeug von Hutu-Extremisten abgeschossen worden war, die sich gegen das Arusha-Abkommen wandten, das die Aufteilung der Macht zwischen den politischen Parteien in Ruanda einschließlich der RPF vorsah. Nach dem Tod von Habyarimana wurde der von ihm und seinem Regime bereits lange geplante Völkermord fortgesetzt.
Hutu, die Tutsi töteten, taten dies aus vielen Gründen, doch hinter den individuellen Beweggründen verbarg sich eine gemeinsame Furcht, die in fest verankerten, aber falschen Vorstellungen von der ruandischen Vergangenheit wurzelte. Die Organisatoren des Völkermords, die selbst mit diesen verzerrten Geschichtsbildern aufgewachsen waren, nutzten geschickt falsche Vorstellungen darüber aus, wer die Tutsi waren, woher sie kamen und was sie in der Vergangenheit getan hatten. Aus diesen Elementen schürten sie die Angst und den Hass, die den Völkermord erst möglich machten.
Bei der Kampagne, Hass und Angst vor den Tutsi zu schüren, spielte der Habyarimana-Kreis mit den Erinnerungen an die vergangene Beherrschung durch die Minderheit, die aber ja von den Kolonialherren eingesetzt wurde. Außerdem schlachteten sie das Erbe der Revolution, die 1959 die Tutsi-Herrschaft stürzte und viele ins Exil trieb, aus.
Vor und während des Völkermords war es relativ einfach, die Tutsi zu identifizieren und auszusondern: Das ursprünglich belgische Gesetz verlangte, dass alle Ruander*innen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit registriert werden. Außerdem wussten die ländliche Bevölkerung in der Regel auch ohne Unterlagen, wer Tutsi war.
Der Völkermord war keine Tötungsmaschinerie, die unaufhaltsam vorwärts rollte, sondern eine Kampagne, für die die Teilnehmer im Laufe der Zeit durch Drohungen und Anreize rekrutiert worden sind. Zu den Organisatoren gehörten sowohl Militär- und Verwaltungsbeamte als auch Politiker, Geschäftsleute und andere, die keine offiziellen Posten innehatten.
Am 4. Juli 1994 besiegte die RPF die völkermordende Regierung, übernahm die Macht und beendete den Völkermord, der in nur 100 Tagen über eine Million Tutsi das Leben kostete.